Liu Xiaochun
"René Bölls fernöstliches
Fühlen"
Wenn ich die Malerei von René Böll
betrachte, insbesondere seine Tuschmalereien, fühle ich seinen
starken Wunsch, tief in den Geist der chinesischen Kultur einzudringen
und ihn zu erfassen. Diese Haltung unterscheidet sich völlig
von der anderer westlicher Künstler, die sich mit fernöstlicher
Kunst befaßten. Künstler wie Hans Hartung, Franz Kline,
Robert Motherwell, Henri Matisse, Joan Miró, Jackson Pollock,
Pierre Soulages, Antonio Tapies und andere benutzten die fernöstliche
Kunst als eine Art Steinbruch, ließen sich sehr frei und
eigenwillig vom Duktus der Kalligraphie und Malerei beeinflussen,
befaßten sich aber kaum mit der Tuschtechnik und den philosophischen
Hintergründen. Als Chinese sehe ich in ihrer Kunst weniger
den Geist der fernöstlichen Kultur als den Geist westlicher
Kultur. In ihrem kreativen Schaffensprozeß zerschneiden
sie die fernöstliche Kunst und greifen sich nach ihrem Geschmack
die Elemente heraus, die sie brauchen. Im Entwicklungsprozeß
der modernen westlichen Kunst war dies ein wichtiges Moment. Ohne
diese selektive Wahrnehmung der fernöstlichen Kunst, hätten
jene Maler in der europäischen und nordamerikanischen Kunst
kaum diese vollendeten Kunstschöpfungen zustandegebracht.
Der Unterschied zwischen René Bölls
Malerei und den Werken der oben genannten Künstler liegt
in erster Linie in seiner Geisteshaltung gegenüber der chinesischen
Kultur, seinem sich Hineinvertiefen, auch wenn sich seine Malerei,
einschließlich seiner Tuschmalerei, nach wie vor kaum vom
Hintergrund der westlichen Kultur, dem Ursprung des Künstlers,
losgelöst hat.
René Bölls spirituelles Eindringen
in die chinesische Kultur kommt hauptsächlich in zwei Aspekten
zum Ausdruck:
1. In seiner Hochachtung vor der Natur.
In der europäischen Philosophie tendiert der höchste
Geist zur ewigen Widersprüchlichkeit zwischen Mensch und
Natur und betont die Logik und Vernunft des Menschen, um die Natur
zu manipulieren und zu beherrschen; in der chinesischen Philosophie
dagegen tendiert der höchste Geist zur ewigen Gemeinsamkeit
von Mensch und Natur und betont die Rückkehr und Anpassung
des natürlichen Wesens des Menschen an die Natur. Eben diese
Einheit spürt der Betrachter in den Werken von René
Böll. Vielleicht hat dies mit seiner Liebe zur Philosophie
von Laozi und Zhuangzi zu tun, mit seiner Wertschätzung der
Anschauung von Yin und Yang und den Fünf Elementen und damit,
daß er Qigong und Taichi praktiziert. René Böll
trägt den Geist seiner Wertschätzung der Natur in seine
Kunst hinein, seine Bilder betonen nicht die Gewalt, das Aufreizende,
Lärm und Geschrei, sondern tendieren zum Chaos 1, zur Harmonie,
zur Nichtigkeit und unfaßbaren Schönheit, er betont
nicht das heftige Verlangen nach Leben und nicht die Abscheu vor
dem Tod, sondern betrachtet Leben und Vergehen als Ewigkeit des
Universums; er betont nicht die Unversöhnlichkeit zwischen
Individuum und Umwelt und den hieraus erwachsenden essimismus,
sondern macht die Loslösung des Individuums von der chaotischen
und lärmenden Welt und den hieraus resultierenden Geist der
Einsamkeit deutlich. Daher benutzt Böll in seinen Werken
klare, reine Farben, eine vereinfachende Struktur und einen lockeren
Pinselduktus, um sich der Seelenwanderung (Samsara2) im Leben
und Tod des Menschen und dem Zustand der Einheit des Universums
von Himmel und Erde anzunähern.
2. Sein Eindringen in die Tuschmalerei:
In den letzten ein- bis zweihundert Jahren befand sich die westliche
Kultur in einer starken Position, die chinesische dagegen in einer
schwachen. Deswegen lernten die Chinesen vom Westen ihren eigenen
Weg der Modernisierung zu finden; dies wurde eine Haupttendenz
der chinesischen Kultur. Auch in der Malerei spiegelt sich dies
wieder, viele Chinesen befaßten sich mit der Ölmalerei
in so großem Umfang, mit einer Intensität und Ausdauer,
die bei weitem nicht zu vergleichen ist mit der der Europäer,
die sich der Tuschmalerei widmeten. Auch wenn die chinesische
Ölmalerei im ganzen gesehen bis jetzt noch nicht die Stärke
gefunden hat, sich gegenüber der westlichen Ölmalerei
zu behaupten, so ist die Wirkung der Europäer, die sich der
Tuschmalerei widmen, noch sehr viel weniger erfolgreich. Ich habe
sogar das Gefühl, daß die Europäer, die das Wesen
der Tuschmalerei herausfinden wollen, noch viel mehr Schwierigkeiten
haben als die Chinesen, die das Wesen der Ölmalerei erfassen
wollen. Viele von europäischen Künstlern gemalte Tuschbilder
erfüllen nicht einmal annähernd die ästhetischen
Vorstellungen chinesischer Künstler oder widersprechen ihnen
sogar. René Böll malt nicht einfach nur Tuschbilder,
sondern er beherrscht das Wesen der Tuschmalerei viel tiefer als
andere europäische Künstler. Dies wird offenkundig durch
sein Erfassen des Begriffes Se 3. Anfänger der Tuschmalerei
werden sofort bemerken, welchen großen Einfluß der
Charakter der Wässrigkeit, des Fließens, des Verlaufens
der Tusche, des freien Linienflusses besitzt. Nur durch die intensive
Auseinandersetzung mit diesen besonderen Eigenschaften des Se
kann man in eine tiefere geistige und kulturelle Verständnisebene
eindringen. Deswegen spricht man in der chinesischen Malerei seit
über tausend Jahren von der " Knochenmethode 4 der Pinselbenutzung"
und der Methode der " Durchdringung des Papiers mit Pinselkraft
5 ", aber bis heute hat kaum jemand das Niveau von Ni Yunlin und
Bada Shanren durchbrochen. Die Betonung des Konflikts von "Se"
und "Chang"3 macht die Beherrschung der Tuschmalerei zu einem
sehr schwer zu lösenden Problem, in das man sich ohne Ende
vertiefen kann. René Böll hat dieses Problem berührt,
und dies ist meiner Meinung nach eine hervorragende Leistung.
Weil René Böll seinen westlichen
Kulturhintergrund nicht verlassen hat, sich aber trotzdem in die
chinesische Kultur hineinversetzen will, sehe ich ihn als einen
besonderen Botschafter für den Austausch von chinesischer
und deutscher Kultur.
Beijing, im November 1995
Anmerkungen:
1. Chaos:
im Sinne einer Art Urzustand des Universums, der Natur, wo es
keine Trennung der Dinge, keine Differenzierung gibt und Qi als
Ursubstanz existiert
2. Samsara (altindisch-sanskrit): Kreislauf
von der Geburt über Leben und Tod zur nächsten Geburt
; Seelenwanderung
3. Se (wörtlich): nicht glatt, hemmend; im
Gegensatz zu Chang (wörtlich): ungehindert, reibungslos,
flüssig, Ku (wörtlich): welk, verwelkt, ausgetrocknet,
dürr, verdorrt. Bi: Pinsel. Kubi (wörtlich): trockener
Pinsel, bedeutet hier: der Pinsel besitzt in der Skala: wässrig-feucht-trocken
den Grad von feucht, mit starker Tendenz zum Trockenen, wie beispielsweise
bei Pflanzen, die noch nicht ganz ausgetrocknet sind, noch ein
wenig Pflanzensaft enthalten oder wie bei trockenem Holz mit etwas
Feuchtigkeitsgehalt. Reibung und Flüssigkeitsgrad korrelieren.
4. Knochenmethode: Die Knochenmethode geht
auf den bekannten Maler und Kunstkritiker Xie Me (479 - 501) zurück,
der die Behandlung der Linie nach der Knochenmethode als Essenz
der chinesischen Kunst bezeichnet.
Nach dieser Vorstellung wird die Linie
als komplette Einheit von Knochen- und Nervenstruktur, von Fleisch
und Blut begriffen. Die innere Struktur verleiht der Linie Standkraft
und Stärke. Sehnen und Muskeln schaffen Spannkraft zwischen
den beiden Enden der "Knochenlinie"; das Blut ist die Energie
oder Bewegung, die durch die Linie pulsiert, und das Fleisch wird
durch Wasser und Tusche geschaffen. Die richtige Anwendung der
Knochenmethode verleiht der Linie Lebendigkeit (Qi) und Lebenskraft.
Da man in der chinesischen Malerei schwarze Farbe als "Farbe"
betrachtet und die Knochenmethode in engem Zusammenhang mit der
Verwendung von Tusche steht, bezeichnet man mit knochenloser
Malerei,
Malereien in Farbe ohne Verwendung der schwarzen Tusche. Diese
Art von knochenloser Malerei geht auf den Maler Yun Shouping (1633
- 1690) zurück. (Siehe Kwo Da-wei, Chinese Brushwork, George
Prior Press, London 1981, S. 175)
5. Zum Ausdruck: "Die Linie ist so stark,
daß sie die Rückseite des Papiers durchdringt"; gemeint
ist: eine Linie muß Festigkeit haben, man muß sehen
können, daß sie auf dem Papier Halt hat, daß
jeder Teil der Linie einen sicheren Kontakt mit dem Papier hat.
(a.a.O., S. 178)
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